
Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat vor Kurzem eine völlig neue Qualitätsnorm für die Übersetzungsbranche veröffentlicht: die DIN 2345. In einer von ISO 9000 beherrschten Welt werden Sie sich die Frage nach dem Sinn einer solchen Norm stellen: Handelt es sich nur um ein weiteres Produkt der ISO 9000-Phobie? Oder kann diese Norm wirklich dabei helfen, die allgemeine Qualität von Übersetzungsprodukten zu verbessern?
DIN 2345 und ISO 9000: zwei Welten
Inzwischen hat sich auch in der Übersetzungsbranche die Einsicht durchgesetzt, dass die Normenreihe ISO 9000 alles andere als ein Garant für Qualität ist. Die Hauptzielsetzung von ISO 9000 ist, ihre Benutzer zum formalen Denken in Prozeduren zu zwingen, diese Prozeduren dann aufzuschreiben und sie schließlich als Kontrollsystem zu implementieren. Anders ausgedrückt: ISO 9000 hilft beim Erstellen von Prozeduren zur Produktions- und Qualitätskontrolle, liefert aber keine Maßstäbe zur eigentlichen Qualitätskontrolle. So ist es tatsächlich möglich, mittelmäßige Qualität zu liefern und dennoch den ISO-9000er-Normen gerecht zu werden, solange dieses mittelmäßige Qualitätsziel (vielleicht verbunden mit niedrigeren Preisen) schriftlich dokumentiert und in einem Unternehmenshandbuch nach ISO 9000 spezifiziert ist.
Ein (…) Mangel an Bewusstsein auf Seiten der Kunden in Bezug auf Übersetzungsprozesse (…) ist mit der größte Stolperstein auf dem Weg zu hoher Übersetzungsqualität. (…) Gute Zusammenarbeit ist (…) eine Grundvoraussetzung für das Erreichen einer akzeptablen Qualität. (…) Die Auftraggeber von Übersetzungen (…) sollten Referenz- und Informationsmaterial sowie Terminologielisten zur Verfügung stellen und Kommunikationskanäle für Rückfragen einrichten. Ohne diesen Input wird die Qualität von Übersetzungen den Ansprüchen nie gerecht werden können.
Von dem Fehlen konkreter Maßstäbe einmal abgesehen, kann die Einführung eines Qualitätssicherungs-Systems nach ISO 9000 sogar recht kontraproduktiv sein: Schlampige ISO-9000-Systeme schaffen einzig und allein mehr Bürokratie. Wird diese dann noch unmotivierten Mitarbeitern aufgebürdet, bleibt unter dem Strich nur Mehrarbeit ohne jeden Nutzen für die Produktqualität. Nur wirklich professionell implementierte Qualitätssicherungs-Systeme führen letztlich zu Best-Practice-Prozeduren, Akzeptanz bei den Betroffenen, Kostenreduzierung und Steigerung der Gesamtqualität.
Doch worin liegt nun der Unterschied zur DIN 2345? Im Grunde ist alles anders: Während die Normenreihe ISO 9000 allgemein anwendbare Elemente definiert, die im Hinblick auf eine Zertifizierung erst an die Übersetzungsbranche angepasst werden müssen, entwickelt die DIN 2345 Elemente speziell für die Übersetzungsbranche. Diese Norm legt genau fest,
- wie ein Übersetzungsprojekt durchgeführt werden muss
- welche Arten von Informationen benötigt werden und
- welche Qualifikationen von den betroffenen Personen erwartet werden.
Genau dieser Unterschied macht die DIN 2345 so wichtig für die Übersetzungs- und Lokalisierungsbranche.
Die Inhalte der DIN 2345
Schon ein kurzer Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt den eindeutigen Fokus der DIN 2345 auf die Übersetzungsbranche:
- Die Standard-Einleitung legt den Anwendungsbereich der Norm fest, verweist auf andere Normen und definiert die verwendeten Begriffe.
- Das erste Kapitel ist der Ablauforganisation innerhalb eines Übersetzungsbüros gewidmet.
- Sowohl »Ausgangstext« als auch »Zieltext« werden in getrennten Kapiteln behandelt.
- Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Prüf- und Bewertungsprozessen für Übersetzungen.
- Und schließlich wird noch auf den Prozess der Zertifizierung nach DIN 2345 selbst eingegangen.
Verweise auf andere Normen
Es mag für Nicht-Insider der Übersetzungsbranche überraschend sein, dass Verweise auf andere, während des Übersetzungsprozesses in Betracht zu ziehende Normen fast zwei Seiten der insgesamt 14-seitigen Norm füllen. Solche Normen legen z. B. fest, wie man
- korrekt zitiert
- Dokumente strukturiert
- in andere Zeichensätze transkribiert oder
- Glossare erstellt und pflegt.
Definitionen
Normen dienen hauptsächlich zur Standardisierung von Terminologie. Und auch die DIN 2345 wird diesem Anspruch gerecht: Diese Norm scheint tatsächlich die erste offizielle Veröffentlichung zu sein, die Begriffe wie »Muttersprache«, »Übersetzerkompetenz«, »Ausgangstext«, »Referenztext«, »Textfunktion« und andere damit verbundene Konzepte definiert.
Ablauforganisation
Das Kapitel zur Ablauforganisation stellt offensichtlich den Kern der Norm dar. Es gliedert sich in folgende Abschnitte:
- Auswahl geeigneter Übersetzer
- Vereinbarungen zwischen Auftraggeber und Übersetzer
- Unterstützung durch den Auftraggeber
- Weitervergabe und Aufteilung von Übersetzungsaufträgen
- Vorgangsbegleitende Dokumentation.
Wie ISO 9000 definiert auch diese DIN-Norm keine verbindlichen Qualitätsmaßstäbe; sie liefert jedoch einige für die Übersetzerauswahl wertvolle Kriterien. Bislang hat jedes Übersetzungsbüro seine eigenen Kriterien, um die Qualifikation von Übersetzern und ihre Kompetenz für bestimmte Projekte zu ermitteln. Die DIN 2345 standardisiert dieses Vorgehen durch das Formulieren von sieben Kriterien für Übersetzerqualifikationen, wie z.B. Ausbildung, Spracherfahrung, technisches Fachwissen. Dies mag vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss in Sachen Qualifikation und Bewertung von Übersetzerkompetenz sein, aber es bringt die Übersetzungsbranche einen Schritt weiter in Richtung Professionalität.
Meiner Erfahrung nach sind ein genereller Mangel an Bewusstsein auf Seiten der Kunden in Bezug auf Übersetzungsprozesse sowie das Scheitern effektiver Kommunikation zwischen den Projektmanagern des Auftraggebers und den Projektmanagern des Übersetzungsbüros die größten Stolpersteine auf dem Weg zu hoher Übersetzungsqualität. Die DIN 2345 geht hier nicht nur auf die rechtlichen Aspekte einer solchen Kooperation ein, sondern beschreibt auch ausführlich den Kommunikationsprozess zwischen den involvierten Parteien. Doch wie schon gesagt: Gute Zusammenarbeit ist keine Garantie für gute Übersetzungen – sie ist aber eine Grundvoraussetzung für das Erreichen einer akzeptablen Qualität.
Die Abhandlung des Themas »Unterstützung durch den Auftraggeber« in einem eigenen Abschnitt unterstreicht die nicht zu unterschätzende Bedeutung des Kunden-Inputs bei Übersetzungsprozessen. Die Norm legt fest, dass die Auftraggeber von Übersetzungen Referenz- und Informationsmaterial sowie Terminologielisten zur Verfügung stellen und Kommunikationskanäle für Rückfragen einrichten sollten. Ohne diesen Input wird die Qualität von Übersetzungen den Ansprüchen nie gerecht werden können.
Im allgemeinen gliedert sich die Weitergabe und Aufteilung von Übersetzungsaufträgen in drei organisatorische Ebenen:
- den Auftraggeber
- das Übersetzungsbüro
- freie Mitarbeiter, die für das Übersetzungsbüro arbeiten.
Ein eigener Abschnitt des Kapitels »Ablauforganisaton« trägt dieser Tatsache Rechnung und behandelt die Beziehung zwischen diesen organisatorischen Ebenen sowie die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten.
Der Abschnitt zur vorgangsbegleitenden Dokumentation erinnert stark an die ISO 9000 mit ihrer Auflistung von mehr als 20 Kategorien zur Dokumentation und Archivierung für zukünftige Referenzzwecke. Dies mag recht bürokratisch erscheinen, sollte aber selbstverständlich sein für alle nach kontinuierlicher Verbesserung strebenden Unternehmen. Die DIN 2345 entwickelt tatsächlich wertvolle Ideen in Bezug auf die Organisation solcher Dokumentationen.
Ausgangstext und Zieltext
Ein Hauptproblem beim Streben nach guter Übersetzungsqualität ist die Qualität des Ausgangstextes. Ist der Ausgangstext unklar, schlecht formuliert, ungenau, inkonsistent oder fehlerhaft, ist es schwierig, eine gute Übersetzung zu liefern. Leider behandelt die Norm nicht die Qualität des Ausgangstextes. Sie beinhaltet aber einen Abschnitt, der Themen wie Terminologie, Referenzen und Rückfragen behandelt.
Viel wichtiger ist natürlich der Zieltext. Die DIN 2345 definiert eine Anzahl formaler Aspekte, denen eine Übersetzung zu genügen hat. Interessanterweise diskutiert dieser Abschnitt auch die Erstellung neuer, in der Zielsprache noch nicht existierender Terminologien. Dieses Problem stellt sich recht oft, vor allem bei Forschungsberichten oder bei Software-Lokalisierungen.
Prüfen und Bewerten von Übersetzungen
Eine Qualitätsbeurteilung von Übersetzungen nach den Noten sehr gut, gut, befriedigend oder mangelhaft kann durch eine Norm nicht verbindlich festgelegt werden. Eine Norm kann aber spezifische Evaluierungsregeln definieren. Einige der in DIN 2345 festgelegten Maßstäbe sind z.B.:
- Vollständigkeit
- Terminologie-Konsistenz
- Grammatik und Stil
- aber auch die Beachtung eines Style Guide, auf den sich Auftraggeber und Übersetzer geeinigt haben.
Die Norm widmet sich außerdem dem Aspekt der Dritt-Meinungen, die beim Bewerten der Übersetzungsqualität eingeholt werden können: der »Prüfung durch einen entsprechend qualifizierten Dritten«.
Die Zertifizierung nach DIN 2345
Die DIN 2345 ist eigentlich keine Zertifizierungsnorm. Sie ist darauf ausgelegt, integraler Bestandteil eines jeden Vertrags zwischen Auftraggeber und Übersetzungsbüro zu sein.
Als Äquivalent zur Normenreihe ISO 9000 hat das Deutsche Institut für Normung jedoch eine Prozedur eingerichtet, die es dem Übersetzungsdienstleister ermöglicht, das Prädikat »Ausführung von Übersetzungsaufträgen nach DIN 2345« zu führen.
Fazit
Die DIN 2345 mag vielleicht nicht die endgültige Garantie für umfassende Qualität in der Übersetzungsbranche sein, sie ist aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Qualitätsverbesserung. Professionelle Übersetzungsbüros werden nichts Neues oder Überraschendes in dieser Norm finden. Das Beachten der Norm sollte aber doch zu einem besseren Verständnis zwischen den Auftraggebern von Übersetzungen und den Übersetzungsbüros führen.
Dies allein ist für jeden in der Branche – auch für bereits mit Qualitätssicherungsprozeduren arbeitende Übersetzungsbüros – Grund genug, diese Norm ernst zu nehmen.
- Wolfgang Sturz, Doculine News, 12/98
- Der Artikel wird mit freundlicher Genehmigung von doculine Verlags-GmbH veröffentlicht.
- Foto: © Radim Sochorek