Der Ruf des Papageis
Dolmetscher sorgen für Verständigung. Sie sind jedoch auch auf das Verständnis ihrer Kunden und Klienten angewiesen. Deshalb wurde dieser Text geschrieben. Er soll helfen, die Arbeit der Dolmetscher besser zu verstehen. Und dadurch für bessere Verständigung zu sorgen.
Dolmetscher vermitteln zwischen Sprachen und Kulturen. Deshalb stehen sie häufig in der Mitte, manchmal sogar im Mittelpunkt, ohne dies zu wollen. Aus der Sicht der Auftraggeber sind sie eher eine Figur am Rande, denn sie sind weder Fachexperten noch gehören sie zum Organisationsteam. Sie sollen nicht mitreden, aber alles vermitteln. Dolmetscher sind zentrale Randfiguren.
Es ist verständlich, dass diese Randstellung in der Mitte manchmal zu Problemen führt. Dolmetscher werden als ex-zentrische Figuren (durchaus respektvoll) behandelt, dabei wären sie gerne mehr in den Gesamtablauf einer Konferenz integriert, um besser für optimale Verständigung sorgen zu können.
Verstehen à la carte
Wenn Ihnen ein japanischer Geschäftsmann seine Visitenkarte überreicht, sollten Sie diese Geste gebührend würdigen. Die Überreichung einer Visitenkarte hat in der japanischen Kultur eine andere Bedeutung als in der unseren, und sie erfordert ein anderes Ritual. Hat das etwas mit Sprache zu tun? Ja, denn sprachliche Äußerungen sind nicht zu trennen von kulturellen Prägungen und Konventionen. Fällt so etwas auch in den Aufgabenbereich des Dolmetschers? Ja, denn seine Aufgabe ist die Verständigung à la carte.
Januar 1992 (dpa) – Wissenschaftler sollen Computer das Dolmetschen beibringen. Das Bundesforschungsministerium will mit Hilfe neuer Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz die Fremdsprachenbarrieren im Blick auf die zunehmende weltweite Zusammenarbeit abbauen. Diesem Ziel soll ein völlig neuartiges Dolmetschgerät auf Computerbasis dienen, das sogenannte Verbmobil … Das Dolmetschgerät soll bis zum Jahr 2000 verfügbar sein.
Würden Sie das How are you? eines US-Amerikaners als eine Frage nach Ihrem Wohlbefinden verstehen? Die Wörter legen dieses Missverständnis nahe, aber wer schon einmal in den USA war und die Gepflogenheiten dort kennt, würde niemals auf die Idee kommen, ein How are you? mit einem kurzen Referat des Gesundheitszustands zu beantworten. Er weiß, dass es als Begrüßungsfloskel verwendet wird, und man kann getrost ein How are you? mit einem How are you? beantworten.
Wörter bringen zwar Bedeutungen ins Spiel, aber Traditionen, Konventionen und Situationen entscheiden darüber, welchen Sinn sie haben. Dolmetscher wissen das. Das Verbmobil wird genau dies nie kapieren. Und deshalb gibt es auch im Jahr 2000 noch keinen elektronischen Dolmetscher, und es wird ihn auch im Jahr 2020 nicht geben.
Wörter wissen – die Welt kennen
Aus einer Rede des damaligen Bundesaußenministers Genscher zur Eröffnung der 39. Internationalen Saarmesse:
»Dieses Engagement außereuropäischer Unternehmen ist keine unfaire Konkurrenz, sondern unternehmerische Weitsicht mit dem Ziel optimaler Wahrnehmung neuer Marktchancen. Niemand hindert unsere Unternehmen daran, unter Ausnutzung ihres Standortvorteils in der Gemeinschaft diese neuen Marktchancen noch stärker wahrzunehmen. Mut zu mehr Markt bedeutet auch Mut zum größeren Markt.«
Was muss man wissen oder können, um diese Passage zu verstehen? Eine mögliche Antwort wäre: »Man muss eben alle Wörter kennen, die in dem Text vorkommen«. Schauen wir uns den letzten Satz, und darin das Wort Markt, etwas genauer an. Wir erkennen, dass Markt hier nicht soviel wie Marktplatz oder Wochenmarkt oder Absatzmarkt bedeuten kann, sondern dass es für Marktwirtschaft steht. Mehr Markt, das heißt hier: Öffnung der Märkte, eine stärkere Betonung marktwirtschaftlicher Elemente, Abbau von protektionistischen Maßnahmen und Subventionen. Woher wissen wir das? Mit Sicherheit nicht aus dem Wörterbuch, sondern aufgrund unseres »Weltwissens«, also all der Erkenntnisse, die wir irgendwie im Laufe unseres Lebens gesammelt und abgespeichert haben. Dieses enzyklopädische Wissen umfasst sehr viel mehr als die Lexikon-Bedeutung einzelner Wörter. Wozu brauchen wir dieses Weltwissen? Reicht es nicht, einfach die Wörter zu kennen? Courage for more market means also courage for a bigger market. Das wäre das Resultat einer wörtlichen Übertragung ins Englische – ein höchst unbefriedigendes Resultat, denn dieser Äußerung könnte der Zuhörer kaum entnehmen, was Genscher hier eigentlich sagen will. Und mit Sicherheit klingt eine solche Formulierung eigenartig und »unenglisch«.
Um eine Äußerung zu verstehen, reicht es also nicht, die Wörterbuchdefinitionen einzelner Wörter zur Anwendung zu bringen. Um zu verstehen, müssen wir unser Weltwissen anwenden. Ein Dolmetscher muss nicht nur Sprachen können. Er muss auch etwas wissen. Das unterscheidet ihn von den Papageien. Unter anderem.
Vernetzung
In der Zukunft werden wir Maschinen entwickeln, die immer mehr auf ihre Umwelt reagieren und in der Lage sind, ihren Betrieb an wechselnde Bedingungen anzupassen.
So etwas könnte zum Beispiel ein Ingenieur in einer Rede sagen, oder auch der Chef eines Unternehmens. Stellen Sie sich vor, Sie hören diesen Satz nur und er liegt Ihnen nicht schriftlich vor. Die beiden Wörter ihren Betrieb könnten Ihnen dann Verstehensprobleme bereiten, denn sie sind doppel- bzw. mehrdeutig. Wenn Sie ihren nur hören, wissen Sie natürlich nicht, ob es groß oder klein geschrieben wird. Wenn ein Dolmetscher diesen Satz ins Englische übertragen soll, hat er also ein Problem. Und dazu kommt noch ein weiteres – was heißt hier eigentlich Betrieb? Sehen wir doch einfach einmal im Wörterbuch Englisch – Deutsch nach. Da finden wir: business, company, concern, enterprise, factory, works, place of work, work, working, operation, running of …, bustle. Was ist richtig? Und hat der Redner nun ihren oder Ihren Betrieb gesagt?
Wir haben also eine knifflige Gleichung mit zwei Unbekannten, denn die Übersetzung von Betrieb ist davon abhängig, ob wir von Ihren oder ihren ausgehen – oder auch umgekehrt. Wie löst ein Dolmetscher nun diese vertrackte Gleichung? Wie kann er in wenigen Sekunden alle Möglichkeiten durchspielen und sich für die richtige entscheiden?
Ignorance is bliss, sagen die Engländer – zu viel Wissen kann auch schädlich sein. In der Tat ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich ein Dolmetscher bei der Übertragung dieses Satzes all der Möglichkeiten bewusst ist, die wir aufgeführt haben. Dieses sprachliche Problem – und viele andere, ähnlich gelagerte – ist aus seiner Sicht gar keines, denn er weiß ja, was der Redner sagen will. Dieser Satz ist Teil einer ganzen Rede, und die Rede ist Teil einer Konferenz oder einer Tagung, über deren Thematik, Anlass und Teilnehmer er sich informiert hat.
Insofern ist Wissen dann doch nützlich, ja, es ist die Voraussetzung dafür, dass sprachliche Probleme dieser Art gelöst werden können. Denn auf der sprachlichen Ebene lässt sich der vernetzte Beziehungsreichtum von Wörtern nicht entwirren. Dazu braucht man ein hoch differenziertes Inventar von Wissen – und eine zeitaufwendige Vorbereitung. Und manchmal auch ein wenig Glück.
Ahnungen
Nehmen wir an, ein Redner beginnt seine Ausführungen so:
Wenn wir uns heute aufgrund vieler Beobachtungen und angesichts der Dringlichkeit der Lösung der Probleme …
An dieser Stelle blenden wir uns aus und fragen: Wie könnte er diesen Satz wohl fortsetzen? Zum Beispiel so:
a)
… die Frage stellen, ob unser Unternehmen auch in Zukunft …
b)
… der Zusammenarbeit verweigern, dann doch nur, weil …
Je nach Fortsetzung entstehen also ganz unterschiedliche Aussagen, auf deren Präsentation der Zuhörer mehr oder weniger geduldig warten kann.
Der Dolmetscher aber nicht. Weil er diesen Redner simultan vom Deutschen ins Englische dolmetschen muss. Er kann seinen Zuhörern schlecht sagen: »Meine Damen und Herren, es geht gleich weiter – ich muss nur noch einen Augenblick warten, bis der Redner das finale Verb ausgesprochen hat.« Denn auf dieses Verb kann man bei manchen (deutschen) Rednern manchmal sehr lange warten. Der Dolmetscher muss deshalb etwas sagen, häufig schon bevor der Redner seinen Satz zu Ende gebracht hat.
Es ist übrigens keineswegs selten, dass in einem Wort einer Sprache mehrere Bedeutungen zusammengepackt sind, die in einer anderen Sprache auf mehrere Wörter verteilt werden. Denken Sie zum Beispiel an den Himmel, der in religiösen und in meteorologischen Texten auftauchen kann, während man im Englischen fein säuberlich zwischen sky und heaven unterscheidet. Für Dolmetscher sind mehrdeutige Funktionswörter wie wenn (oder auch während) natürlich ein viel größeres Problem, denn wenn die den Satz falsch beginnen, lässt sich dieser Fehler nicht mehr durch die Korrektur eines Worts ausbügeln. Sie haben deshalb keine andere Wahl, als etwas zu riskieren – sie müssen erahnen, was der Redner sagen will, bevor er es gesagt hat.
Diese Ahnungen sind jedoch nicht das Ergebnis außersinnlicher Wahrnehmung, sondern haben eine solide Grundlage: Die Auswertung aller Informationen, die in der Rede selbst enthalten sind, und die gründliche Vorbereitung auf das Thema der Konferenz und auf die Anliegen, Absichten und Präsentationsformen der Redner. Wenn Dolmetscher vor einer Konferenz die Organisatoren um detaillierte Informationen bitten, so tun sie dies, um ihren Erwartungshorizont möglichst hell auszuleuchten. Das Resultat sind klare Formulierungen in ihrer Verdolmetschung – manchmal (und mit ein wenig Glück) versteht man sie besser als den Redner.
Dolmetscher haben natürlich nichts dagegen, wenn man sie lobt. Das haben sie mit uns allen gemeinsam. Deshalb freuen sie sich auch, wenn man ihnen zum Beispiel sagt: »Sie sprechen ja ein ganz tolles Englisch«, oder »Sie haben eine so angenehme Stimme – es macht wirklich Spaß, Ihnen zuzuhören! Es gibt aber auch Komplimente, über die sie weniger begeistert sind: »Glückwunsch, das war wirklich prima! Wissen Sie, das letzte Mal hat meine Sekretärin das gemacht, und ihr Französisch ist nicht so gut.« Oder: »Sie kennen sich ja in der Halbleitertechnik phantastisch aus – haben Sie studiert?«
Was ist am Dolmetschen so schwierig?
Einige Faktoren kennen wir: Sprachkenntnisse, Wissen, Fleiß, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit. Aber es scheint so, dass nicht die einzelnen Faktoren ausschlaggebend sind, sondern ihr Zusammenspiel. Dolmetscherische Leistungen lassen sich weder allein dem Weltwissen noch den Sprachkenntnissen zuordnen. Sie beruhen auf der Fähigkeit, Weltwissen und Formulierungen einander zuzuordnen. Deren Verhältnis zueinander ist jedoch einigermaßen kompliziert: Ein Tatbestand kann auf die verschiedensten Arten formuliert werden, eine Formulierung kann – je nach Kontext – auf unterschiedliche Tatbestände verweisen. So vollzieht sich die eigentliche Leistung in einem recht dunklen, weitgehend noch unerforschten Bereich, wo zielsicher und gedankenschnell eigenes Weltwissen, die Situation des Redners, der Zweck der Rede und die Bedürfnisse der Zuhörer mit den verwendeten Wörtern in Beziehung gesetzt, und das Resultat dieser Analyse fast automatisch sprachlich umgesetzt wird.
Das hört sich recht kompliziert an. Und das ist es auch.
Im Cockpit
Piloten und Dolmetscher haben mehr gemeinsam, als man vermuten möchte. Da ist zunächst die funktionale Nüchternheit und die bedrängte Enge des Arbeitsplatzes. Das »Cockpit« des Dolmetschers ist die Kabine, durch deren Fenster er beobachten kann, ob er seine Gäste zum gewünschten Ziel bringt, und welches »Raumklima« der Redner durch seinen Vortrag schafft. Wie jeder Pilot hat auch der Dolmetscher seinen Kopiloten, der über die gleiche Navigationserfahrung verfügt wie er selbst, jederzeit bereit ist, an seiner Stelle die Instrumente zu übernehmen, ihm durch die Bereitstellung von Daten zuarbeitet, und ihn in vorgeschriebenen Zeitabständen ablöst.
Dolmetscher sind zentrale Randfiguren (…) Sie wären gerne mehr in den Gesamtablauf einer Konferenz integriert, um besser für optimale Verständigung sorgen zu können. (…) Sie sind auf Verständnis angewiesen. Vom Redner (…), dass sein natürliches Sprechtempo, seine klare Artikulation und seine Mikrofontechnik die Voraussetzung dafür ist, dass alles Gesagte auch bei ihnen ankommt. Vom Zuhörer brauchen sie das Vertrauen in ihre Leistung, und nicht Besserwisserei oder Wortklaubereien.
Und noch eine Gemeinsamkeit: Psychologen haben herausgefunden, dass ein ganz bestimmter Persönlichkeitstyp besonders häufig an Flugangst leidet. Es handelt sich dabei um Menschen, die Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen, und die es nicht gewohnt sind, sich anderen anzuvertrauen. Sie tun sich deshalb gerade in den Situationen besonders schwer, wo sie sich eigentlich entspannt zurücklehnen könnten, weil andere kompetent ihre Arbeit für sie verrichten. Dieses Gefühl, ihrem »Kommunikationspiloten« ausgeliefert zu sein, ist auch für manche Konferenzteilnehmer eine Beschwernis. Sie äußert sich manchmal darin, dass die Kompetenz des Dolmetschers anhand von Wörterbüchern überprüft wird; in gravierenden Fällen wird sogar versucht, ihn sein Handwerk zu lehren. Erfahrene Dolmetscher reagieren auf diese Symptome der Dolmetsch-Phobie mit Gelassenheit. Aber auch ihr Blut gerät manchmal in Wallung, wenn ihnen wieder einmal erklärt wird, dass jenes Wort dieses heißt. Und sie fragen sich, ob ihre »Kritiker« wohl auch den Mut hätten, einem Jumbo-Kapitän den richtigen Anflug auf Hong Kong zu erklären, weil sie selbst in ihrer Jugend Modellflugzeuge geflogen haben.
Vertrauensfragen
Dolmetscher arbeiten am besten, wenn sie einen Vorschuss bekommen – einen Vorschuss an Vertrauen, denn sie sind auf Verständnis angewiesen. Vom Redner brauchen sie das Verständnis dafür, dass sein natürliches Sprechtempo, seine klare Artikulation und seine Mikrofontechnik die Voraussetzung dafür ist, dass alles Gesagte auch bei ihnen ankommt. Vom Zuhörer brauchen sie das Vertrauen in ihre Leistung, und nicht Besserwisserei oder Wortklaubereien. Nur souveräne Dolmetscher sind zur Höchstleistung fähig. Und wie gut ein Dolmetscher sich fühlt, hängt auch von der Reaktion seiner Zuhörer ab.
Technik und Techniken
Wenn bei einer Konferenz sichergestellt werden soll, dass alle Zuhörer zeitgleich die jeweilige Rede in ihrer Muttersprache hören können, so muss der Text der Rede simultan gedolmetscht werden. Der Dolmetscher sitzt zu diesem Zweck in einer schalldichten Kabine, von der aus er den ganzen Raum überblicken kann. Über einen Kopfhörer hört er die gehaltene Rede in der Originalsprache und überträgt diese sofort simultan in die Zielsprache. Soll die Rede noch in andere Sprachen gedolmetscht werden, so wird für jede Sprache eine Kabine (mit Dolmetscher/in) benötigt. Der Dolmetscher spricht seinen Simultantext in ein Mikrofon, von dort wird er auf die Kopfhörer der Zuhörer übertragen. Bei mehrsprachigen Konferenzen können die Zuhörer durch Wahltasten an ihrem Sitzplatz entscheiden, in welcher der angebotenen Sprachen sie dem Redner folgen möchten.
Jeder verantwortungsbewusste Dolmetscher wird versuchen, für sein Briefing möglichst viele Informationen zu bekommen (…) – Veröffentlichungen zum Thema der Konferenz (…), Terminologie-Listen und internen Fachjargon, (…) Diagramme und Zeichnungen zu Funktionszusammenhängen, um Manuskripte der Konferenzbeiträge und Abstracts der Vorträge. Viele dieser Unterlagen befinden sich schon lange vor Beginn der Konferenz beim Auftraggeber, aber häufig wird nicht daran gedacht, sie auch dem Dolmetscher zugänglich zu machen.
Im allgemeinen sitzen zwei (manchmal auch drei) Dolmetscher in einer Kabine, die sich nach interner Absprache (in der Regel alle 30 Minuten) ablösen. Die nicht aktiven Dolmetscher haben nur insofern Sendepause, als sie während dieser Zeit nicht sprechen. Sie verfolgen jedoch die Redebeiträge weiterhin aufmerksam und müssen jederzeit in der Lage sein, ihrem Kollegen zu helfen (etwa bei langen Aufzählungen, Statistiken, oder besonders esoterischen Fachausdrücken). Es kann auch sein, dass sie das Mikrofon übernehmen, wenn der Kollege in Schwierigkeiten kommt. Schon deshalb können sie nicht einfach abschalten.
Sitzt oder steht dagegen ein Dolmetscher (etwa bei Empfängen, Begrüßungsansprachen oder Tischreden) unmittelbar neben dem Redner, so wird konsekutiv gedolmetscht. Das heißt: Die ganze Rede (oder zumindest größere Abschnitte) werden zunächst zusammenhängend vorgetragen, und dann gedolmetscht. Während des Vortrags macht sich der Dolmetscher Notizen, danach dolmetscht er zusammenhängend in die gewünschte Zielsprache.
Briefing
Bevor ein Pilot seinen eigentlichen Arbeitsplatz betritt, geht er für jeden Flug zum Briefing. Er informiert sich über die Wetterdaten auf seiner Flugstrecke, die örtlichen Gegebenheiten am Zielort, die Auslastung des Flugzeugs usw. Vor Beginn des eigentlichen Flugs wird anhand einer Checkliste die technische Sicherheit des Flugzeugs überprüft, und auch während des Fluges ist der Pilot auf die Zuverlässigkeit der Daten angewiesen, die er vom Flugleit- und Kontrollsystem erhält.
Ein Dolmetscher muss nicht nur Sprachen können. Er muss auch etwas wissen.
Es wäre unsinnig, einem Piloten zu sagen: »So, heute fliegst du einmal ohne Einweisung und ohne Instrumente – jetzt wollen wir einmal sehen, ob du wirklich fliegen kannst!« Denn ein ganz wichtiger – wenn nicht der wichtigste – Teil der fliegerischen Kompetenz besteht darin, die richtigen Daten zu erheben, sie anzufordern, auszuwerten und umzusetzen.
Dolmetschern wird manchmal mit wenig Verständnis begegnet, wenn sie vor Beginn einer Konferenz um Informationsmaterial bitten. Nicht selten wird ihnen gesagt: »Wir dachten eigentlich, Sie könnten Englisch! Sie brauchen doch nur alles ins Deutsche zu übersetzen – verstehen müssen Sie das ja nicht!«.
Weil diese Vorstellung vom Dolmetscher als einem mechanischen Papagei recht verbreitet ist, haben wir uns bemüht, die Komplexität der Vorgänge zu erläutern. Dabei wurde klar, dass Vorwissen und Situationsverständnis entscheidende Voraussetzungen für das Verstehen sind. Deshalb wird jeder verantwortungsbewusste Dolmetscher versuchen, für sein Briefing möglichst viele Informationen zu bekommen. Dabei kann es sich um Veröffentlichungen zum Thema der Konferenz handeln, um Terminologie-Listen und internen Fachjargon, um Diagramme und Zeichnungen zu Funktionszusammenhängen, um Manuskripte der Konferenzbeiträge und Abstracts der Vorträge. Viele dieser Unterlagen befinden sich schon lange vor Beginn der Konferenz beim Auftraggeber, aber häufig wird nicht daran gedacht, sie auch dem Dolmetscher zugänglich zu machen.
- © Dr. Hans G. Hönig, Fachgruppe Dolmetschen am Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg – Universität Mainz, 2001
- Der Aufsatz wird mit freundlicher Genehmigung des Autors († 2004) veröffentlicht.
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